Warum man NICHT alles positiv sehen sollte

Bild von Robin Higgins auf pixabay

Der Vorwurf, ich sei mit nichts zufrieden und hätte zu hohe Ansprüche, sowie die Aufforderungen, ich solle doch einfach mal zufrieden sein und die Dinge positiv sehen, begleitet mich mein ganzes Leben. Die Gesellschaft im Allgemeinen mit ihrem neoliberalen Mantra, mit ihren Therapeut*innen, mit ihren Lifestyle-Coaches und ihrem Insta-Glitzer, sowie mir mehr oder weniger bekannte Menschen lösten meine Mutter ab, um dieses Mantra zu wiederholen. Immer wieder wird die Ursache für meine Unzufriedenheit darin gesehen, dass ich nun mal einfach zu unzufrieden bin. So einfach. Wer unglücklich ist, muss doch einfach nur mal damit aufhören unglücklich zu sein.

Dabei stelle ich aktuell zum wiederholten Male fest: Mein Problem ist allzu oft, dass ich mich mit zu wenig zufriedengebe. Aus dem Glauben heraus, ich sollte doch mal zu schätzen wissen, was ich habe und was Besseres, als das gäbe es sowieso nicht, akzeptiere ich allzu oft Dinge, die weder meinen Bedürfnissen noch meinen Werten entsprechen. Meine Träume, Sehnsüchte und Ideale als Prüfstein für meine Realität zu nutzen, wage ich erst recht nicht.

Jüngst genauso wieder geschehen im sozialen Kontext. Da halte ich es jahrelang mit Beziehungen aus, die mich mit mehr Trauer und Schmerz zurücklassen, als dass sie mir Freude bereiten. Ich lasse mich von Menschen hinhalten, lasse mir Versprechungen machen, die jahrelang immer wieder gebrochen werden, trotzdem renne ich diesen Menschen weiter hinterher.

Eben so, als hätte ich nichts Besseres verdient und

als gäbe es nichts Besseres auf dieser Welt.

Dann wundere ich mich, dass mein Selbstwertgefühl in den Keller geht, ich mich nicht geschätzt fühle und beständig von Zweifel an diesen Beziehungen geplagt werde.

So ist sie eben, unsere Zeit und so sind sie nun, die Menschen dieser Zeit, sage ich mir.

Und dann nehme ich mir irgendeinen Deppen als Maßstab für das, was Menschen sein können und welche Beziehung ich zu ihnen haben kann. Ich lasse diese Menschen so viel Raum einnehmen, dass nicht mal mehr Platz ist für die Hoffnung, dass es auch irgendwie anders sein könnte.

Selbst wenn diese Hoffnung unrealistisch sein sollte, verstehe ich manchmal selbst nicht, warum ich lieber an etwas krummen und schiefen festhalte, als mich mit dieser Hoffnung auf die Suche zu machen. Seine Integrität, sein Selbstwertgefühl und Hoffnung zu bewahren fühlt sich auch alleine besser an, als ohne Würde mit irgendwem zusammen zu sein.

Klar, alleine zu sein ist etwas, was instinktiv einen Horror auslöst. Ich bin auch absolut nicht mehr der Meinung, das läge nur an meinen persönlichen Kindheitserfahrungen. Ich gehe eher davon aus, dass es zu den menschlichen Grundbedürfnissen als sozialem Lebewesen gehört, in einem sozialen Bezug aufgehoben zu sein. Ein paar Jahrzehnte Menschheitsgeschichte, in denen der Individualismus groß ist, trainieren einem dieses Bedürfnis nicht so schnell ab.

Vielleicht reicht das als Erklärung schon aus. Vielleicht kann man noch so etwas hinzunehmen, wie die Tendenz zur Anpassung oder Resignation aus Enttäuschung und Ohnmacht heraus. Die Gründe sind mir gerade nicht so wichtig.

Mir ist der Effekt wichtig:
Ich versuche, mit irgendwas zufrieden zu sein und das Gegenteil ist das Ergebnis.

Das liegt einfach daran, dass der Versuch mich selbst zurechtzubiegen, um in eine Beziehung hineinzupassen, mich daran hindert klare Informationen darüber zu bekommen, was für mich nicht passt und entsprechende Veränderungen anzustreben. Um eine realistische Einschätzung einer Situation zu bekommen, muss man unvoreingenommen Informationen sammeln. Um eine Veränderung herbeizuführen, muss man zunächst überhaupt die Feststellung zulassen, dass etwas verbesserungsbedürftig ist. Wenn ich diese Wahrnehmung ständig unterbinde, weil ich alles positiv sehen will und zufrieden sein will, dann wird sich gar nichts ändern.

Und ja, vielleicht scheitere ich bei dem Versuch etwas zu ändern. Vielleicht werden meine Träume niemals wahr und meine Ideale bleiben immer nur Ideale. Aber ein Versuch war es wert.

Denkt man diesen Gedanken etwas größer,

dann lässt sich sagen, dass der Versuch ständig alles positiv zu sehen, keinen anderen Effekt hat als Verdrängung der Realität. Auf diese Weise bekommt man kein realistisches Bild von der Welt und ihren eben leider doch vorhandenen Problemen. Man kann dem positiven Denken eine Tendenz zur Konformität und Konservatismus vorwerfen.

Statt Menschen zu motivieren, genau hinzuschauen und zu benennen, was ihnen falsch erscheint, sollen sie das doch lieber positiv sehen.

Wird es zur Aufforderung, man solle doch Dinge positiv sehen, oder gar zum Vorwurf, dass man ja selbst für sein Unglück verantwortlich sei, weil man alles so negativ sähe, dann werden hier ganz deutlich Verantwortlichkeiten verschoben. Statt Missstände zu beheben oder eben die Verursacher für diese in Verantwortung zu ziehen, beschuldigt man diejenigen, die auf die Probleme hinweisen, mies gelaunte Pessimisten zu sein, die einem hier die Stimmung verderben und die Illusionen platzen lassen.

An dieser Stelle wird es geradezu zynisch.

Denn wäre alles in Ordnung, wer bräuchte positives Denken?

In einer gerechten, schönen Welt würde es vollkommen ausreichen, eine realistische Perspektive zu haben.



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