Die Überlastung von Beziehung durch die Individualisierung kollektiver Probleme

An welcher Stelle beginnt man mit der Veränderung?

Betreffen uns politische Probleme nicht in allen Lebenssphären, also auch im zwischenmenschlichen? Können wir auch nicht dort achtsamer, gewaltfreier miteinander sein? Können wir nicht auch dort unsere gängigen Vorurteile hinterfragen, unsere Denkmuster reflektieren? Ist nicht genau in der persönlichen Begegnung der Ort, um an den großen Ismen unserer Zeit zu arbeiten?

Klingt einleuchtend, oder? Wo können wir etwas ändern? Dort, wo uns konkrete Menschen begegnen, richtig?

Mir scheint aber, dass auf einmal politische Themen in vollem Umfang auf persönlicher Ebene ausgetragen werden. Da wird ein politisches Problem zum Konflikt zweier Menschen miteinander. Was strukturell bedingt ist, lastet man sich gegenseitig an. In extremen Fällen politischer Correctness beschuldigt man einander als Verursacher des Übels. „Du bist strukturell antisemitisch!“ „Und dein Look ist kulturelle Aneignung!“

Toll, die Leute, die eigentlich für dieselbe Sache waren, sind gespalten. Wer freut sich wohl darüber?

Individualisiertes Verständnis von Gesellschaft

Hier werden aber zumindest noch strukturelle Probleme benannt, auch wenn sie als solche nicht behandelt werden, sondern sie deutlich individualisiert werden. So als hinge alles davon ab, dass der einzelne Mensch sich möglichst korrekt verhalten müsste und das politische Problem hätte sich in Luft aufgelöst. Wenn nur alle das tun würden…

Als wäre die Gesellschaft eine reine additive Ansammlung von Individuen, deren Probleme man zahlenmäßig lösen könnte: Wenn genug Menschen sich richtig verhalten, dann wird alles gut. Das übersieht völlig, dass die Beziehung zwischen den Menschen kein Plus-Zeichen ist, sondern die Gesellschaft durch komplexe Wechselwirkung verschiedener Strukturen die Beziehung der Menschen zueinander prägt. Und zu den Strukturen gehört ganz einfach auch Macht, Hierarchie und Ungleichheit.

Die ist nicht da, weil ich als Einzelne irgendwie nicht genug kritisch weiß bin. Die ist da, weil die bestehenden Machtstrukturen daraus entstanden sind, Menschen zu unterdrücken und auszubeuten und weil die von der Macht profitierenden Menschen daran interessiert sind, diese Strukturen aufrechtzuerhalten. Zudem hat Macht auch die Eigendynamik, sich in Monopolen zu akkumulieren, auch ohne dass es nötig wäre, dass hinter jeder Entwicklung immer jemand mit bösen Absichten stünde. Wenn das Ding einmal läuft, dann gewinnt es schnell an Fahrt.

Auch wenn wir kollektiv als Deutsche im internationalen Vergleich von diesen Strukturen profitiert haben, gibt es im Einzelnen im innerdeutschen Vergleich aber wiederum extreme Ungleichheiten. Ich weiß nicht, warum sich da junge Studierende gegenseitig die Köpfe einhauen, während neben ihnen die Manager großer Firmen sich damit die Taschen voll machen, dass sie anderswo Menschen die Lebensgrundlage zerstören. Die lachen sich kaputt, dass die heutigen Links-Ökos nicht in der Lage sind, die Verantwortlichen zu benennen.

Stellvertreterkämpfe

Es gibt aber noch eine weitere, subtilere Form, kollektive Probleme auf der Beziehungsebene zu lösen. Die Art und Weise, wie wir leben, beeinflusst uns auf tiefer emotionaler, auf seelischer Ebene. Da sind ein Haufen diffuser Gefühle von Ohnmacht, Trauer, Wut, sich unverstanden fühlen, nicht anerkannt werden usw.

Wir haben gelernt, diese Gefühle nur auf uns und unseren persönlichen Umkreis zu beziehen. Wenn ich mich nicht anerkannt fühle, dann liegt das an meinem Chef, der mich nicht sieht, an meiner Freundin, die nicht richtig zuhört, dem Partner, der mal wieder unachtsam war. Wenn die sich nur mal ein bisschen mehr bemühen würden, dann würde ich mich verstanden fühlen.

Oder das Problem wird gleich psychologisiert. Dann nimmt man an, dass das Gefühl mangelnder Anerkennung daher rührt, dass man das als Kind nicht erfahren hat und diese Erfahrung heute wiederholt. Bla bla bla. Das ist die Variante, bei der man die Schuld bei sich selbst sucht.

Oder man wirft es eben seinem Gegenüber vor, dass es nicht achtsam genug gewesen sei und bei einem bestimmte Triggerpunkte angesprochen hätte und man nun eine Entschuldigung wollen würde und in Zukunft achtsamen Umgang mit Gefühlen, der Sprache, den eigenen Verletzungen etc.

Ich habe solche Beziehungen erlebt. Egal wie rücksichtsvoll ich gewesen bin, egal wie mitfühlend und achtsam, ich habe immer irgendeinen Punkt getroffen. Ich habe immer irgendwas Falsches gesagt. Manchmal konnte ich in diesen Beziehungen kein zehnminütiges Gespräch führen, ohne dass mein Gegenüber auf einmal ein verletztes Gesicht zeigte und mich auf meine Unachtsamkeit aufmerksam machte.

Ich bin politisch gebildet und ich bin als Frau so sozialisiert worden, jederzeit eine Antenne dafür zu haben, niemandem zu nahezutreten, keine Konflikte zu verursachen, generell nicht zum Problem zu werden. Deshalb war ich einerseits ständig vollkommen verblüfft, wie ich denn nun schon wieder etwas Verletzendes gesagt haben konnte und zum anderen verstärkte sich mein Sozialisationsmuster extrem. Natürlich wollte ich niemanden verletzen! Ich veranstaltete einen Eiertanz, um mich auszudrücken. Machte mich bereit, jederzeit meine Schuld einzugestehen, um Verzeihung zu bitten und Besserung zu geloben.

Denn nicht nur auf der persönlichen Ebene wollte ich keinem etwas tun, sondern selbstverständlich wollte ich auf politischer Ebene keine Muster wiederholen, unter denen mein Gegenüber litt. Klar wollte ich nicht unachtsam, rassistisch, sexistisch oder sonst was sein.

Plötzlich war ich die Gesellschaft, die meinen Gegenüber Leid antat. Plötzlich war ich Täterin.

Und ich hatte die ganze Verantwortung für alles zu tragen, was in der Gesellschaft so falsch lief. Ich war irgendwie Stellvertreterin der Gesellschaft und was man dieser nicht sagen konnte, das warf man mir vor.

Diese Last war absolut überfordernd. Ich fühlte mich, als trüge ich die Bürde für mein Gegenüber etwas anzuerkennen, was von der Gesellschaft nicht gesehen wurde, etwas zu heilen, was nicht von mir verursacht wurde und überhaupt für die geballte Schuld, die das Patriarchat sich in tausendjähriger Geschichte von Gewalt und Zerstörung aufgebürdet hatte, Verantwortung zu tragen.

Aber ich war doch eigentlich auf derselben Seite wie mein*e Gesprächspartner*in, wir saßen doch im selben Boot? Wie konnte es sein, dass ich mitten im Gespräch zur Täterin geworden war?

Und was bedeutet es eigentlich, wenn man Menschen, die eigentlich überwiegend selbst Opfer von etwas sind, zu Tätern macht? Das stinkt ganz fies nach Tätertaktiken. Nur dass das hier gar kein Täter tat, sondern jemand, mit dem ich eigentlich in Solidarität verbunden sein sollte. Aber diese Solidarität wurde in jedem Moment des Vorwurfes erneut gebrochen.

Weil man der Täter nicht habhaft werden kann, weil man ihnen nicht ins Gesicht sagen kann, wie sehr einem das hier alles stinkt, weil man in Ohnmacht vor den strukturellen Problemen steht, greift man sich eine*n Stellvertreter*in, von dem*der man ausgehen kann, dass man Gehör findet und sein Bedürfnis nach Anerkennung der eigenen Gefühle durchsetzen kann.

Gewaltförmiges Psychodrama

Für mich fühlte es sich oft gewaltförmig an. Ich wurde in eine bestimmte Rolle gepresst, in der ich ständig gezwungen war, die Gefühle meines Gegenübers zu bedienen, mich schuldig zu fühlen und das Gespräch wieder in friedliche Bahnen zu lenken.

Ich fühlte mich emotional erpresst: Du willst doch wohl kein Täter sein? Du willst doch wohl nicht unachtsam sein? Du willst mich wohl nicht verletzen? Natürlich wollte ich das nicht. Aber die Deutungshoheit darüber, was verletzend ist, lag komplett bei meinem Gegenüber. Wenn dieses etwas als verletzend definierte, dann konnte ich daran nichts ändern, egal wie absurd mir das schien, das waren die Gefühle des Gegenübers und es hatte ein Recht darauf, dass sie akzeptiert wurden!

Ja, mein Gegenüber hat ein Recht darauf, gehört zu werden. Aber ich bin die falsche Ansprechpartnerin. Mir schienen die aufgepeitschten Gefühle meines Gegenübers beträfen Dinge, die viel größer sind als das, was ich gesagt hatte. Ich kann das nicht alleine tragen, ich kann das nicht alleine wiedergutmachen.

Ich nenne mal ein Beispiel, an das ich mich erinnern kann, weil ich nicht selbst Gegenstand des Vorwurfes war. An Dinge, die im Psychodrama passieren, wenn ich selbst betroffen bin, kann ich mich nämlich meist gar nicht richtig erinnern.

Politischer Kampf in der WG

Mein Gesprächspartner warf seinem WG Mitbewohner zu Beginn der Corona-Zeit vor, dass er auf ihn als besonders durch Corona gefährdete Minderheit nicht genug Rücksicht nähme. Er verstand sich als besonders gefährdet, weil er Asthma hatte und die mangelnde Rücksicht bestand darin, dass sich der Mitbewohner zu Hause nicht als Erstes die Hände wusch oder Besuch mit nach Hause brachte. Am Anfang der Corona-Zeit konnte noch niemand einschätzen, wie schlimm das alles werden würde und ich versuchte auch eher vorsichtig zu sein. Daher konnte ich schon verstehen, dass mein Gesprächspartner das als rücksichtslos empfand, dass sein Mitbewohner ihn in seinen Ängsten nicht ernst nahm. Ist ja kein großes Ding sich die Hände zu waschen, damit sich der Mitbewohner entspannen kann, egal was man von Corona hält.

Mit fortschreitender Zeit und fortschreitendem Konflikt zwischen den beiden kam bei mir aber auch langsam immer mehr Verständnis für den Mitbewohner auf. Ich erlebte es nun selbst ständig, mit Vorwürfen der mangelnden Rücksichtnahme und Unachtsamkeit konfrontiert zu sein. Nicht wegen Corona, aber wegen allem möglichen anderen. Und mir fiel immer wieder auf, dass mein Gesprächspartner sich selbst als gefährdete Minderheit definierte und seinen Mitbewohner als rücksichtslose Mehrheit. Das Verhalten des Mitbewohners war nicht einfach das Verhalten eines einzelnen Deppen. Hier wurden in der WG politische Kämpfe ausgefochten. Hier musste das Recht der Minderheit gegen die Mehrheit verteidigt werden. Hier ging es um Machtstrukturen, Übergriffigkeit und politischen Widerstand.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Probleme politischer Dimension bis in jede Beziehung hineintragen. Jede Frau, die Zuhause mal wieder wesentlich mehr im Haushalt tut als ihr Mann und sich deshalb mit ihm streitet, kann ein Liedchen davon singen. Aber sie kann auch sagen, wie überlastet die Beziehung davon ist, dieses Problem auf persönlicher Ebene lösen zu müssen. Klar, am Ende will sie, dass der konkrete Mann, mit dem sie zusammenlebt, jetzt einfach mal mitanpackt. Und wenn er das nicht tut, dann kann sie ihn entweder auf der individuellen Ebene als Arsch sehen, als willenloses Produkt männlicher Sozialisation oder als jemanden, der aktiv patriarchale Strukturen aufrechterhält und deshalb nicht nur persönlich ein Arsch ist, sondern auch auf politischer Ebene ein Täter.

Eskalation und Überlastung

Das ist ganz schön viel Last für einzelne Beziehungen. Wir kommen nicht ganz darum herum, diese politische Dimension in unseren Beziehungen zu thematisieren.

Aber manchmal scheint es einfach zu eskalieren. Da muss das Gegenüber dann für das kollektive Problem in seinem ganzen Umfang herhalten. All die Wut und der Schmerz von der Gesellschaft übergangen worden zu sein, wird dann dem Menschen an den Kopf geknallt, der einem wie der Repräsentant des Übels erscheint.

Plötzlich greifen noch an andere Beziehungsmuster. In der Eskalationsstufe, also wo politische Dimension und persönliche völlig durcheinander geraten, spielen plötzlich noch andere Beziehungsmuster mit in das Geschehen hinein.

Zum Beispiel gehört zur Eskalationsstufe der Dreh, die Aufmerksamkeit immer wieder auf die eigene Verletzung zu lenken. Falls nämlich ich einmal selbst auf etwas aufmerksam machte, was mich störte, wurde mir schnell irgendwie auch dafür die Schuld wieder zugesprochen oder mit etwas abgelenkt, was ich wohl zwischendurch noch falsch gemacht haben sollte.

Hier geht es dann scheinbar darum, seine Gefühle auf Teufel komm raus durchzuboxen und ihnen mit Aggression Raum zu verschaffen. Im Notfall wird der andere dann einfach mit Vorwürfen bombardiert, bis er kapituliert. Die Aggression, die sich da eigentlich gegen kollektive Missstände richtet, wird zum Angriff auf eine konkrete Person genutzt. Mit einer zerstörerischen Wut wird um das eigene Recht auf Rücksichtnahme gekämpft.

In diesen Beziehungen brach die Ebenbürtigkeit schnell zusammen. Ständig wurde die Verbindung zerstört und ich fühlte mich als Service-Telefon für Staatsprobleme missbraucht und emotional manipuliert.

Für mich als jemandem, dem es schwerfällt für sich einzustehen, Grenzen zu verteidigen und jemanden abzuweisen, war das das totale Desaster. In mir setzte regelmäßig etwas aus, ich war nicht in der Lage meinem Gegenüber den Ball zurückzuspielen und die Sache bei ihm zu belassen. In mir ging das absolute Psychodrama los, das mich in einen Strudel der Dissoziation, Hilflosigkeit und Verwirrung stürzen ließ. Was hatte ich falsch gemacht? Wie konnte das passieren? Was ist hier los? Wie kann ich das wiedergutmachen? Warum fühlt es sich aber so an, als hätte ich gar nichts falsch gemacht?

Stopp!

Ich konnte nicht sagen: Das Spiel spiele ich nicht mit. Ich will auf dich Rücksicht nehmen, aber du kannst mich nicht erpressen. Und ich halte nicht als Ansprechpartnerin für strukturelle, kollektive Probleme her. Tu dich mit mir zusammen, um den richtigen ans Bein zu pinkeln. Aber wenn du das bei mir abladen willst, dann brichst du die Ebenbürtigkeit und Solidarität unserer Beziehung. Dann vertust du die Chance, mit mir etwas zusammen zu bewegen. Du vertust die Chance auf eine Beziehung zu mir. Für mich ist das schädlich, ich kann das nicht dulden. Ich teile die Gefühle mit dir und fände es viel hilfreicher, wenn wir uns zusammen zur Wehr setzten. Aber ich will nicht deine Wut abbekommen, die ich im eigentlichen nicht verursacht habe.

Neue Bündnisse und Gefühle in der richtigen Bahn

In einer Beziehung habe ich genau das erreichen können. In meiner Partnerschaft gab es jahrelang Konflikte, und zwar so weit, dass wir uns trennten. Wir stellten aber irgendwann fest, dass es an uns als Personen gar nicht liegt, dass wir Konflikte haben. Wie beschrieben ließen wir Gefühle aneinander aus, für die der andere aber gar nicht Verursacher war. Als wir beschlossen, zusammenzuhalten, statt uns spalten zu lassen und unsere Gefühle richtig zuzuordnen, waren die zerstörerischen Konflikte vorbei und wir versanken nicht mehr in irgendeinem Psychodrama. Wut und Trauer in dieser überwältigenden Unbändigkeit ließen sich jetzt zuordnen. Das bisschen Jedöns, über das man sich sonst noch so streitet, ist dagegen ein Pups und bringt uns kaum noch aus der Ruhe.

Die von mir beschriebene Art von Beziehung, in der man politische Kämpfe austrägt, scheint dabei zum allgemeineren Phänomen geworden zu sein. Das ist nichts, was nur ich als spezielle Beziehungsdynamik erlebt hätte. Sondern das ist eine Form der Ohnmacht zu entgehen. Weil man das Gefühl hat, politisch nichts ändern zu können, schnappt man sich halt jemanden, den man greifen kann. Und es ist Symptom der Individualisierung und eines seltsamen Verständnisses von Öffentlichkeit und politischer Sphäre. Diese liegt nicht alleine zwischen einzelnen Menschen.

Das Traurige ist, diese Art Denken macht uns tatsächlich politisch handlungsunfähig, zerstört das Vertrauen und den Zusammenhalt zwischen uns. Damit ändert sich gar nichts an strukturellen Problemen und Machtgefügen. Es macht alles sogar noch schlimmer.

Was auch zu sehen ist, sind Unmengen aufgestauter Energie und Gefühle. Wenn ich mir vorstelle, in wie vielen Menschen das vor sich hin brodelt, wie viele davon krank werden, wie viele Beziehungen daran zerbrechen und wie einsam wir dadurch werden…

Wenn ich mir aber vorstelle, das Feuer der unterdrückten Wut, die Flutwelle der geschluckten Tränen und der eingesperrte Sturm der Lebendigkeit würden einmal den richtigen Kanal finden, dann könnten wir gemeinsam wirklich Veränderung möglich machen.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Nach oben ↑

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten