Das Spiel, dessen Regeln ich nicht kenne

Bild von Suzy Hazelwood auf pexels

Ein Traum, in dem Mathematik im Zusammenhang mit Unheil in meinem Leben steht.

Wieder wache ich auf und stelle fest, dass ich den Termin der Mathematik-Klausur vergessen habe. Sie findet am heutigen Tag statt. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich komplett verschlafen habe und die Klausur-Zeit schon zu Hälfte abgelaufen ist. Das einzig vernünftige scheint mir zu sein, mich krankzumelden und die Klausur nachzuschreiben.

Es stellt sich aber heraus, dass es eine Regel gibt, die mir verbietet, diese Klausur nachzuschreiben. Nun habe ich diese Klausur nicht bestanden und das bedeutet, obwohl es sich um eine Schul-Klausur handelt, dass ich mein Studium nicht weiterführen kann.

Im Traum bin ich vollkommen verzweifelt, schreie und weine und kann es nicht fassen, dass wegen irgendeiner komischen Regel, von der ich nichts wusste, meine Zukunftspläne zusammenbrechen.

Es ist die Willkür dieser Regel, die mich mit schlechter Laune aufwachen lässt. Dieser Traum drückt für mich das Gefühl aus, dass das Leben in dieser Gesellschaft ein Spiel ist, dessen Regeln man nicht genau kennt. Ein Spiel, dessen Regeln man gar nicht genau kennen kann, weil es unzählige sind und ihre Kenntnis eine eigene Lebensaufgabe wäre. So bleibt einem nicht anderes übrig, als drauflos zuspielen. Doch ständig stellt man fest, dass man eine Regel gebrochen hat und man nun drei Felder zurückgesetzt wird. Oder man stellt fest, dass man eine Regel, die zum eigenen Vorteil gewesen wäre, nicht genutzt hat, weil man sie nicht kannte.

Verlust von Freiheit und Autonomie, durch die Unkenntnis der Regeln

In meinem Traum ist es eine einzige Regel, die dazu führt, dass ich meine Zukunftspläne nicht weiter verfolgen kann. Es fällt nicht nur der Plan weg, wie ich die nächste Zeit in meinem Leben gestalten kann. Es fällt auch das Konzept weg, wie ich meinen Lebensunterhalt durch den Studienabschluss auf eine Weise verdienen kann, dass es meinen Interessen entgegenkommt.

Schließlich versucht man ja, seinen Lebensunterhalt nach den Regeln dieser Gesellschaft zu sichern und gleichzeitig auch etwas für sich selbst sinnvolles und erfüllendes zu tun. Die Vorstellung, sein Leben lang Dinge zu tun, die man hasst, um Nahrung, Kleidung und Obdach zu finanzieren, ist grausig und für mich zutiefst beängstigend. Die Fortbildungen und Ausbildungen, die wir machen, sind Versuche, für uns selbst etwas Autonomie und Freiheit zu schaffen, sodass wir wenigstens auswählen können, was wir arbeiten, wenn wir schon nicht wählen können, ob wir arbeiten.

Der Verlust meines Studienplatzes in meinem Traum ist also ein Verlust dieser Freiheit. Ohne diesen Abschluss habe ich weniger Gestaltungsmöglichkeiten, das zu machen, was ich machen möchte, weil Bildungsabschlüsse in unserer Gesellschaft als Türöffner funktionieren.

Meine Freiheit verliere ich aufgrund einer Regel, von deren Existenz ich nicht einmal wusste. Weitere, möglicherweise unbekannte, Regeln hängen als diffuse, unsichtbare Bedrohung in der Luft. Wer kann wirklich wissen, ob er bei seinen Handlungen nicht irgendeine Regel übersehen hat? Und alle unsere Handlungen sind von diesen menschengemachten Regeln kontrolliert. Du kannst nicht wohnen, nicht arbeiten, dich nicht fortbewegen, ohne dass es dafür nicht eine Regel gäbe. Es gilt: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.

Der einzige Schutz ist die Information.

Manchmal versuche ich noch eine Lösung zu einem Alptraum dazu zu träumen. Ich fasse dann im Halbschlaf den Entschluss, dem Traum doch noch eine gute Wendung zu geben, und schlafe wieder ein.

In diesem Falle träumte ich, dass ich stundenlang zu der Regel recherchierte, die mich meinen Studienplatz gekostet hatte. Es kam heraus, dass es diese Regel gar nicht gab, sondern ein*e Sachbearbeiter*in einen Fehler gemacht hatte und mir fälschlicherweise mitgeteilt hatte, dass ich die Klausur nicht nachschreiben dürfe. Es folgten unzählige Formulare und bürokratische Vorgänge, um die Angelegenheit zu klären und meinen Studienplatz zurückzubekommen.

Auch das ist ein Abbild unserer Realität: Jemand anderes vertut sich mit den Regeln und schon wieder hat es weitreichende Konsequenzen für das eigene Leben. Mit Vertrauen ist hier niemandem geholfen. Vielmehr noch bestraft das Leben in dieser Gesellschaft Vertrauen. Nur wer die Regel selbst recherchiert oder wer wenigstens genau prüft, dass der Sachverständige für die Regeln, den er sich zur Hilfe holt, auch wirklich verständig ist, hat eine Chance den Weg durch den Irrgarten zu finden. In meinem Leben ist das immer wieder schiefgegangen, wenn ich glaubte, ich könnte mich einfach so auf eine Beratung verlassen. Es ist erstaunlich, wie sogar die Leute an der Kenntnis der Regeln scheitern, deren Job es ist, sich mit einem bestimmten Teil der Regeln auszukennen.

Keiner blickt mehr durch.

Am ehesten hat jemand eine Chance, wenn er*sie sich viele Berater*innen kaufen kann: Steuerberater*innen, Jurist*innen, Unternehmensberater*innen, PR-Agenturen. Wer das alles nicht bezahlen kann, muss sich alleine durchschlagen – und wird immer einen Nachteil haben. Die Zahl der Regeln ist also nicht nur überfordernd, sondern die Möglichkeit, sich zurechtzufinden, ist auch noch ungleich – geregelt.

Das Leben ist unglaublich kompliziert und unübersichtlich geworden, obwohl doch am Ende immer noch dieselben Grundbedürfnisse befriedigt werden müssen. Aber anstatt den Apfel vom Baum zu pflücken, durchlaufen wir einen Hürdenlauf, der wie Takeshis Castle anmutet. Im Idealfall haben wir am Ende dann wieder einen Apfel in der Hand, aber auf dem Weg dahin sind mehr Hürden zu nehmen und mehr Möglichkeiten zu scheitern, als der Weg zum Apfelbaum jemals bereithalten könnte.

Vor diesen Gefahren schützt kein Instinkt.

Vor allem glaube ich, dass die Gefahren auf dem Weg zum Apfelbaum für uns überschaubar sind und es zum Teil dafür sogar instinktive Lösungen gibt. Die Spielregel dieser Gesellschaft hingegen sind kaum vorhersehbar, weil sie nun mal einfach ausgedacht sind. So als wäre man auf einem Planeten gelandet, der gänzlich andere Naturgesetze hat. Plötzlich fällst du nach oben, Gemüse greift dich an, flauschige Katzenbabys saugen deine Seele aus und du kannst nur überleben, indem du eine schleimige Flüssigkeit bei Vollmond auf Stecknadelköpfe gießt. Warum auch immer.

Klar hat man sich bei den Regeln etwas gedacht. Aber vielleicht haben wir mittlerweile schon zu viel gedacht. So viel, dass man vor einer undurchsichtigen, unüberschaubaren Welt steht, die einen mit völlig absurden Gefahren konfrontiert: Keine Versicherung für das Haus abgeschlossen, den NC fürs Studium nicht erreicht, den Kündigungstermin für den Mobilfunkvertrag nicht eingehalten, die Kosten für die neue Heizungsanlage nicht bedacht, die EC-Karte am Automaten stecken gelassen, ein Bild vom Personalausweis in Internet gepostet, nicht lang genug in die Rentenversicherung eingezahlt, gedacht, die kleine Hütte im Garten wird wohl schon niemanden stören, den Arbeitsvertrag nicht richtig gelesen…

Was fühlt sich so bedrohlich an?

Nichts davon bedroht uns als deutsche Staatsbürger*innen direkt bei Leib und Leben. Das heißt, wir sterben nicht sofort, wenn wir in eine dieser Gefahren stolpern. Für Menschen mit anderer Staatsbürgerschaft sieht das schon wieder anders aus. Die Gefahren bedrohen dieses Konstrukt, das wir unser Leben nennen und womit wir die Konstellation aus Arrangements und Verträgen meinen, die der Sicherung unserer Grundbedürfnisse dient, wie der Mietvertrag, der Arbeitsvertrag, die Fahrkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel, das Bankkonto, der Personalausweis, der Telefonvertrag. Trotzdem geraten wir in Bedrängnis, wenn Teile dieses Konstruktes zusammenbrechen. Man hat ein Problem, wenn einem der Mietvertrag gekündigt wird oder wenn man den Job verliert oder die Heizkosten nicht mehr zahlen kann. In unserer Welt heißt das, dass man vorerst keine Lösung dafür hat, wie man seine Grundbedürfnisse sichern kann.

Für mich fühlt es sich oft so an, als lebte ich zwar in dieser postmodernen Welt, aber als wäre mein grundlegendes Gefühlsleben immer noch aus einer viel früheren Zeit, in der wir noch als Stamm Gemüse anbauten, fischten und Beeren sammelten. Den Mietvertrag gekündigt bekommen ist in dieser Gefühlswelt genauso blöd, als würde einem jemand die Hütte abbrennen und den Job zu verlieren bedeutet, dass das Gemüsefeld verwüstet wurde.

Nur fühlt es sich an, als wären die Gefahren, die zu solchen Problemen und Rückschlägen führen können, zu einer Zeit, in der wir noch als Ackerbäuerinnen lebten, überschaubarer gewesen. Man kannte die Spielregel und konnte nach ihnen spielen. Manchmal hat man trotzdem verloren. Aber man war um einiges autonomer: Obwohl es sicher immer jemanden gab, der die eine oder andere Tätigkeit besser beherrschte, wird wohl kein Mensch in völliger Unkenntnis davon gelebt haben, wie man Nahrung beschafft, eine Behausung baut oder ein Feuer macht.

Heute weiß ich manchmal nicht mal genau, welche Dinge für mich überhaupt zum Problem werden könnten. Und wenn die Schwierigkeiten auftreten, kann ich sie wiederum nur mit Kulturtechniken lösen, die die gleichen diffusen Gefahren bergen. All diese Schwierigkeiten sind menschengemacht. All diese Möglichkeiten zu scheitern, haben sich Menschen ausgedacht. Es ist die Willkür, die mich manchmal so fertig macht und die Tatsache, dass ich nicht mehr die Autonomie habe, meine Grundbedürfnisse eigenständig zu befriedigen. Statt meine Hütte wieder aufzubauen und meinen Gemüseacker das nächste Mal mit einem Zaun zu umgeben, muss ich dieses Spiel mit Regeln spielen, die ich nie ganz durchschaue.

Eine Antwort auf „Das Spiel, dessen Regeln ich nicht kenne

Add yours

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Nach oben ↑

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten