Was an der Individualisierung durch die Psychotherapie gefährlich ist

Bild von wgbieber auf pixabay

In der systemischen Therapie gibt es den Ansatz, dass die Erkrankung einer Person ein Anzeichen dafür ist, dass das gesamte System, in dem die Person lebt, Störungen aufweist und die Person sozusagen Symptomträger ist. Diese Person heißt dann Indexpatient*in, was ein ganz anderes Verständnis dieses Begriffes ist, als dasjenige der Epidemiologie. Hier wäre der*die Indexpatient*in, die Person, bei der die Epidemie ihren Ursprung genommen hat.

Ich finde diese systemische Perspektive sinnvoll, weil sie Menschen in einen Kontext einordnet, statt sie isoliert zu betrachten. Das heißt man erkennt an, dass die Welt in komplexen Wechselwirkungen funktioniert und wenn an einer Stelle etwas nicht stimmt, dann zeigt das an, dass etwas insgesamt aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Diese Perspektive ist nicht so populär, weil Systeme im Allgemeinen komplex sind und daher schwer zu verstehen. Viel leichter ist es, sich auf die Symptome der erkrankten Stelle des Systems zu konzentrieren und zu versuchen, diese einzudämmen. Ein ganzes System zu rebalancieren kann ein enormes Unterfangen sein.

Zumal in menschlichen Systemen es einzelnen Teilen sehr gut passen kann, keine Verantwortung für die Störung des Systems zu übernehmen, sondern diese an den Symptomträger auszulagern. Das gilt sowohl für familiäre Systeme, als auch für andere soziale Kontexte bis hin zum gesellschaftlichen Kontext. Solange dann an diesem Indexpatienten herumgedoktert wird, kann ja alles so bleiben, wie es ist. Womit das auch die Methode wäre, bei der man den geringsten Widerstand von dem System erwarten dürfte. Man hat dann einen Buhmann und der fragt sich verzweifelt, was denn bei ihm kaputt ist, während sich alle anderen entspannt zurücklehnen können, weil bei ihnen ja alles ok ist. Man muss keine Verantwortung übernehmen, nicht miteinander kooperieren, keinen Konsens finden und schon gar nichts verändern.

Einzelne Teile eines Systems zu behandeln, ist daher die konservativste Form der Behandlung. Konservativ im Sinne, dass das System dabei konserviert wird, selbst wenn es gestört ist.

Die Verantwortung wird dabei komplett an den Teil des Systems abgegeben, der die Störung empfindet und daher Symptome zeigt. Das heißt im therapeutischen Kontext wird das Problem allein bei dem*der Patient*in gesehen, falls man den Kontext, in dem sich die Person befindet, in der Therapie nicht einbezieht.

Die Therapie kann aber selbst bei bestem Willen nicht alle Kontexte eines Menschen mitbehandeln. Versucht es die Systemische Therapie noch mit der Behandlung der Familie, kann sie ja schlecht eine ganze Firma behandeln oder gar eine ganze Gesellschaft. Aber wir leben in einer Gesellschaft von Menschen, leben in einem politischen System, unser Leben ist geprägt durch ein wirtschaftliches System, wir leben in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort.

Als würde es keinen Unterschied machen, ob man heute in Deutschland lebt oder vor tausenden von Jahren in Südamerika. Als würde es keinen Unterschied machen, ob man in einem christlichen Mittelalter lebt oder als postmoderner Mensch sich dem Hinduismus zuwendet. Als würde es keinen Unterschied machen, ob man derjenige ist, der sich bei Kik die günstige Kleidung kauft oder diejenige, die diese Kleidung näht. Als würde es keinen Unterschied machen, ob man derjenige ist, der an einer Katastrophe gut verdient hat oder diejenige, deren Lebensgrundlage dabei gerade zerstört wurde.

Im Grunde steht man mit den üblichen Therapieansätzen diesem Problem völlig hilflos gegenüber. Ein*e Therapeut*in kann die Störungen im System nicht beheben. Sie*er kann nur mit dem Menschen arbeiten, der die Symptome zeigt.

Wie aber soll jemand in einem kranken System gesund sein? Wie soll man gesund werden, wenn die Störung nicht behoben wird?

Was kann eine Therapie dann überhaupt leisten?

Im Idealfall würde sie dem*der Patient*in die Möglichkeit geben, seine*ihre Symptome auf den Kontext zu beziehen, in dem er*sie lebt. Es gäbe eine Unterstützung darin, sich selbst nicht als gestört, sondern die Störung im System zu erkennen.

Dafür bräuchte es aber eigentlich eine umfassende politische/soziologische Bildung und selbst die ist oft nicht ausreichend, um zu erkennen, was eigentlich in der Gesellschaft nicht rundläuft.

Aber nehmen wir mal an, die Therapie würde es wenigstens schaffen, den*die Patientin zu ermutigen, sich damit auseinander zu setzen und für sich Mittel des Ausdruckes zu finden, einen Umgang damit zu finden, dass man nun mal in dieses System hineingeboren wurde oder gar nach Möglichkeiten zu suchen, gegen die Störungen im System anzugehen.

Im schlechtesten Fall würde die Therapie vermitteln, dass die Störung allein bei der behandelten Person liegt und diese einfach lernen müsse, sich in dem eben bestehendem System zurechtzufinden. Im schlechtesten Fall wäre die Therapie also nur ein Mittel, um die Symptome, die auf eine Störung im System hinweisen, zu beruhigen bzw. eben die Symptomträger*innen wieder einzugliedern. Im schlechtesten Fall also würden Therapien zum Erhalt des gestörten Systems beitragen.

Die übliche Methode, die Ursache für die Probleme des*der Patient*in in der Vergangenheit zu suchen ist ein netter Kniff, sich ein System zu greifen, das heute nicht mehr existiert. So kann man dem*der Patient*in zugestehen, dass die Angst, der Schmerz, die Wut nicht Zeichen ihres eigenen Versagens sind, sondern anerkennen, dass da in ihrer Umgebung reales Unrecht geschehen ist. Aber daran kann man leider nichts mehr ändern und deshalb übt man, wie man Frieden mit der Vergangenheit schließt.

Weil man sich auf das alte Unrecht und den alten Schmerz konzentriert, weil man den aktuellen Schmerz als Ausdruck für den alten Schmerz sieht, muss man sich nicht mit dem aktuellen Unrecht und Schmerz beschäftigen. Alles, was man heute fühlt, hat irgendwas mit früher zu tun. Und damit spricht man den heutigen Gefühlen doch wieder ihre Echtheit und Relevanz ab. Man kann sie aber ja in die Vergangenheit projizieren und dort ernst nehmen.

Dazu ermutigt man den*die Patientin, sich wieder in die Rolle des verletzten Inneren Kindes zu begeben und sich selbst zu beschwichtigen. Das suggeriert aber, dass alle Gefühle von Wut, Trauer, Angst, Schmerz kindliche Gefühle seien. Man lernt nicht, diese Gefühle auch als erwachsene Person zu fühlen, sondern sobald sie auftreten, projiziert man sie auf das Innere Kind. Damit entzieht man nicht nur den Gefühlen ihre Aktualität, sondern stößt die Person auch in eine Kindlichkeit zurück. Immer wenn sich ein Gefühl meldet, wird es nun für ein kindliches gehalten und damit auch für ein unreifes und der aktuellen Situation unangemessenes.

Am Ende heißt das eigentlich nur wieder: Deine Gefühle sind nicht angemessen. Das System ist in Ordnung, du nicht.

Ich weiß nicht, wie man das anders als komplexe Form von Manipulation ansehen kann.

Ich glaube nicht, dass die meisten Therapeut*innen das absichtlich machen, weil sie sich als größter Verfechter des gesellschaftlichen Systems ansehen. Aber eigentlich sollte jemand, der sich mit Psychologie beschäftigt hat und therapeutisch arbeitet, auch eine Vorstellung davon haben, mit welchen Methoden andere Menschen manipuliert werden können. Denn die Geschichten, wie es Täter in Familiensystemen geschafft haben, die Opfer ihrer Taten so vollkommen zu verwirren, dass diese glauben, sie selbst hätten etwas falsch gemacht und mit ihnen würde etwas nicht stimmen, die müssten ihnen doch begegnen.

Warum können sie dann nicht sehen, dass eine ähnliche Verwirrung durch ihre Rückprojektion aktueller Gefühle auf alte Situationen geschehen kann? Oder durch die Deklarierung von Gefühlen als kindlich? Oder durch das Auslassen des politisch-historischen Kontexts des*der Patient*in?

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