Mentale Panzerung

Bild von Andreas auf pixabay

Diese Nacht hatte ich einen Alptraum.

Es war eigentlich eine Variation von einem wiederkehrenden Traum. Die übliche Geschichte ist, dass ich zu spät dran bin, um zur Schule zu kommen. Meistens bin ich damit beschäftigt mir Kleidung auszuwählen und dann merke ich, dass ich gleich den Bus verpassen werde, aber ich bin langsam und unkoordiniert. Seltsamerweise ist mein Kleiderschrank immer mit unzähligen mir unbekannten Outfits ausgestattet und ich bin ewig damit beschäftigt, die Teile miteinander zu kombinieren, sodass sie gut zueinander passen.

Falls ihr euch jetzt denkt, das sei doch kein Alptraum, sondern der normale Alltag einer Frau, dann sage ich, dass ich in meinem Leben seltenst zu spät und schlecht vorbereitet irgendwohin gekommen bin. Und außerdem… sexistisch. Also für mich ist das ein Alptraum, schlecht vorbereitet zu sein.

Der Traum heute variierte von dem üblichen Traum, indem es heute nicht darum ging zu spät zur Schule zu kommen, sondern zu einem neuen Job. Ich fing wieder an, in der Suchthilfe zu arbeiten, wo ich real einige Jahre gearbeitet habe. Zunächst war ich wieder mit anziehen beschäftigt. Ich fand einen passenden Schal zu meiner Mütze, alles Farbe in Farbe, passendes Strickmuster, irgendwie ist das wichtig, dass alles gut zusammenpasst. Danach musste ich hastig in meinen Arbeitsvertrag gucken, um überhaupt zu wissen, um wie viel Uhr ich arbeiten sollte. Bei dem Blick auf den Vertrag stellte ich auch fest, dass ich gar nicht wieder im Bereich Suchthilfe war, sondern ich auf einmal in der Jugendhilfe tätig sein sollte. Darauf fühlte ich mich mental überhaupt nicht vorbereitet. Ich dachte, dass ich mich in der Suchthilfe ja wenigstens auskennen würde und es vielleicht schaffen würde, mich in der Eile dort wieder zurechtzufinden. Aber die Vorstellung in einem Bereich anzufangen, den ich gar nicht kannte und dort völlig unvorbereitet aufzuschlagen, machte mir unglaublichen Stress. Zudem stellte ich noch fest, dass ich schon längst hätte dort sein sollen, weil ich an meinem ersten Tag früher hätte kommen sollen.

In meinem üblichen Traum kommt dann oft noch das Motiv hinzu, dass ich in der Schule dann nicht gut in Mathe bin und ich rückwirkend mein Abitur verliere und damit meine Hochschulberechtigung. Im Extremfall ist dann manchmal sogar mein Hochschulabschluss ungültig.

Für mich wird durch diesen Traum deutlich, wie wichtig es für mich ist, dass ich mich mental auf Dinge vorbereiten kann. Ich kann nur in Kontexten, in denen ich mich wirklich sicher fühle, spontan sein.

Am wenigsten sicher fühle ich mich im Bereich Arbeit, da brauche ich Wochen, um mich für einen neuen Job zu wappnen. Und genau so fühlt es sich an: Ich wappne mich, lege Rüstungsteil um Rüstungsteil an, schichte Panzerschicht um Panzerschicht um meine Seele, mache sie schon mal starr und gerade ausgerichtet darauf, Aufgaben gut zu erledigen. Ich schneide schon mal alle Gefühle ab, drücke die Angst weg, rede mir im Mantra alles schön, sage mir, dass ich keine Angst haben müsse. Aber ich habe Angst. Und die geht meistens gar nicht nach ein paar Wochen Eingewöhnungszeit weg, sondern meistens bleibt die einfach da. Das ist jetzt seit 14 Jahren Berufsleben so und zuvor war es in der Schule in bestimmten Fächern so.

Deshalb ist die Vorstellung, dass ich nicht einmal Zeit habe, diese innerliche Aufrüstung zu betreiben, sondern völlig ungeschützt in eine solche Situation zu geraten, ein totaler Graus. Ohne diesen Schutz müsste ich empfinden, was ich wirklich empfinde: Ich will gar nicht hier sein und ich will das gar nicht machen. Aber weil ich das nicht fühlen darf, weil mein Überleben davon abhängt, rüste ich auf. Um nicht fühlen zu müssen, dass sich das völlig falsch und verdreht anfühlt, ich mich fehl am Platze fühle, mich entfremdet fühle.

Man kann natürlich sagen, ich fühle mich entfremdet, weil ich mich vorher so panzere. Das stimmt. Die Entfremdung tritt aber schon vorher ein, dann, wenn ich so tue, als wolle ich diese Arbeit haben. Ich will die nicht haben.

Wenn ich Bewerbungen ehrlich schreiben würde,

dann würde ich nicht schreiben: Oh, die Aufgabe ist eine tolle Herausforderung und ich habe ja so viel Erfahrungen in diesem und jenen Bereich, dass ich Ihnen bestimmt nützlich bin.

Ich würde schreiben: Hören Sie, machen wir uns nichts vor, Sie wissen es doch selbst, man muss arbeiten, um seine Miete zu bezahlen und den Kühlschrank voll zu bekommen. Ich bewerbe mich bei Ihnen, weil mir Ihre Stellenausschreibung am wenigsten beschissen vorkam und ich außerdem die größte Wahrscheinlichkeit sehe, dass Sie mich aufgrund meiner Qualifikationen auch einstellen und ich hier nicht völlig umsonst eine Bewerbung schreibe. Ich finde es an sich schon sinnvoll, dass diese oder jene Aufgabe für die Gesellschaft übernommen wird, aber eigentlich weiß ich nicht, weshalb ich mich deshalb von Ihnen abhängig machen sollte. Mir passt das gar nicht, dass Sie mein Chef sein sollen und mir sagen können, was ich wann wie zu tun habe. Ich fühle mich durchaus in der Lage das selbst zu bestimmen und bekomme es auch ohne Sie hin tätig zu sein. Und obwohl mir dies dann viel erfüllender und sinnvoller für mich und alle um mich herum erscheint, bekomme ich dafür kein Geld. Solange es kein Grundeinkommen gibt, wir das Geld nicht abgeschafft haben oder irgendwie zu einer teilenden Ökonomie gelangt sind, muss ich wohl bei Ihnen arbeiten. Aber ich finde durch diesen Zwangskontext stinkt jede Aufgabe, die ich ohne Zwang gerne übernehmen würde. Deshalb glauben Sie doch nicht, dass ich mich freuen würde, den größten Teil meiner Zeit bei Ihnen zu verbringen, schon gar nicht für den Preis, den Sie zahlen. Für meine Lebenszeit, die unwiderruflich bei diesem Job verloren geht, gibt es keinen Preis, den irgendjemand bezahlen könnte. Und so weiter.

Aber das darf ich nicht fühlen. Und schon gar nicht sagen.

Stattdessen tue ich so, als würde ich mich gerne in einen Abhängigkeits- und Zwangskontext begeben. Als hätte ich irgendeinen Dominanz-Fetisch.

Ich tue so, als wäre das ganz normal, dass ich mit wildfremden Leuten auf einmal, ohne Kennenlernen mehr Zeit verbringe als mit meinen Freunden. Ich tue so, als würde es mir nichts ausmachen, dass ich mit jemanden, den ich nicht leiden kann oder der mich nicht leiden kann, eng zusammen arbeiten zu müssen. Teamfähigkeit – das ist, wenn man sich zusammen reißen kann, um mit jedem Deppen zusammen doch noch sein Arbeitspensum zu schaffen.

Ich tue so, als wäre es normal, dass ich mir von einer fremden Person vorschreiben zu lassen, wann ich morgens aufstehe und wie lange ich in einem Büro hocken bleiben muss. Irgendwer muss hier ja die Verantwortung tragen, sagt man. Ich drücke meinen Stolz weg, dass ich lieber selbst für meine Aufgaben verantwortlich bin und mich ungern wie eine Handlangerin fühle. Als wäre ich irgendwie bescheuert. Ich verdränge, dass sich das hier eigentlich nicht anders anfühlt als Schule und mich zum Kind herabgewürdigt fühle, obwohl ich eine erwachsene Frau bin.

Die leicht gebeugte Haltung geht nicht mehr weg. Ich sage mir, dass es daran liegt, dass ich viel am Schreibtisch arbeiten muss. Aber irgendwie bleibt die Haltung auch bei Jobs, bei denen ich nicht am Schreibtisch sitze. Es ist das Gefühl, dass es sich gar nicht lohnt, sich aufzurichten, weil ich in voller Größe nicht gebraucht werde. Es braucht nur jemanden, der die Aufgaben übernimmt. Aber das verdränge ich.

Ich rede mir ein, dass eine schon bestehende Institution es mir viel leichter machen würde etwas zu bewegen, als wenn ich erst selbst etwas organisieren müsste. Dazu wären eben bestimmte Strukturen nötig. Ich drücke weg, dass ich es total unangenehm finde, dass hier nicht gleichberechtigt entschieden wird. Ich drücke den Frust weg, wenn ich etwas verändern will und das niemanden interessiert, weil man das hier halt immer so gemacht hat – selbst wenn es Zeit raubt und schlecht funktioniert.

Ich rede mir ein, dass ich eine ganz sinnvolle Aufgabe übernehmen würde und etwas Wichtiges für die Welt tun würde.

Und wenn das nicht funktioniert, dann rede ich mir ein, dass ich hier nur zum Geld verdienen herkäme. Aber wenn ich auf mein Konto schaue, dann stelle ich fest, dass das soo viel Geld nun auch nicht ist. Und wenn ich darauf schaue, wie viel Freizeit noch übrig ist, um mit dem Geld etwas zu machen, dann weiß ich, dass ich den Job mache, um zu überleben. Aber das verdränge ich, denn das ist zu traurig.

Dafür also das Aufrüsten, damit die Wahrheit nicht herauskommt.

Und daher der Horror, dass ich keine Gelegenheit habe zum Aufrüsten aus Angst vor den Konsequenzen. Nämlich mich nicht mehr einpassen zu können, früher ins Schul- heute ins Arbeitsleben, oder dabei sogar das Abitur oder den Hochschulabschluss zu verlieren.

Dazu muss ich sagen, dass meine Tätigkeit an der Universität das einzige Mal war, wo der Anspruch von außen zu meinen inneren Bestrebungen passte und ich mich nicht entfremdet gefühlt, sondern sehr passend gefördert und anerkannt gefühlt habe als diejenige, die ich bin. Der Verlust des Abiturs im Traum steht damit dafür, dass ich diese Erfahrung niemals hätte machen können und noch heute daran glauben würde, dass es ganz normal sei, sich zu verbiegen und zu verdrehen, um Ansprüchen und Zwängen von außen gerecht zu werden. Die Variation des Traums, in der ich den Hochschulabschluss rückwirkend verliere, ist auch eine Art Nichtig-Werden dieser Erfahrung. Als hätte das nichts gegolten, als wäre das eben nichts, was gesellschaftlich anerkannt würde und damit eben keine Option für mich etwas zu tun, wo ich unentfremdet und gesellschaftlich anerkannt tätig sein könnte.

Kein Wunder, dass ich heute Nacht voller Angst in meinem Bett lang. Denn dieser Alptraum ist keine Fiktion, sondern ganz real und hat mich mehr als die Hälfte meiner Lebenszeit begleitet. Und ich weiß noch heute nicht, wie ich ihm entkommen soll. Die Angst, wieder in einer solch entfremdeten Situation zu landen, weil ich keine andere Möglichkeit habe als eine abhängige Arbeit zu verrichten, ist groß und hält mich in stetiger Unruhe.

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