Meine Gefühle sind kein Hirnfurz

Bild von dimitrisvetsikas1969 auf pixabay

Seit Jahren glaube ich, dass mit meinen Gefühlen etwas nicht in Ordnung sei. Egal ob ich traurig, wütend oder müde bin, glaube ich, dass diese Gefühle für die jetzige Situation nicht angemessen seien. Verzweifelt frage ich mich, warum ich mich so fühle, ich hätte doch gar keinen Anlass, mich so zu fühlen.

Wie gerufen kommt da die Erklärung, dass meine Gefühle aus der Vergangenheit herrühren. Meine Traurigkeit sei eine alte Traurigkeit aus meiner Kindheit und meine Wut stamme auch von damals. Weil ich sie nie habe ausdrücken können, schleppte ich sie noch heute mit mir herum und würde die Gefühle auf unangemessene Weise mit in die Gegenwart tragen. Ich müsse mich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und die Wunden dort heilen, dann könne ich meine heutigen Gefühle verstehen.

Ich habe das mein halbes Leben lang so betrieben und verstärkt durch die therapeutische Begleitung in den letzten 6 Jahren. Natürlich, so manchen Schmerz von früher konnte ich aufdecken.

Aber an meiner Gesamtsituation hat das gar nichts geändert. Unverändert fühle ich mich unruhig, traurig, wütend, und zwar scheinbar ohne Bezug zu meiner momentanen Situation. Ich könnte doch zufrieden sein. Oder?

Was ist, wenn diese Gefühle einfach eine Reaktion auf meine heutige Situation sind? Was ist, wenn ich annehme, es gäbe doch Gründe dafür, traurig oder wütend zu sein?

Es ist unvorstellbar, aber ich habe seit Jahren nicht mehr angenommen, dass ich einfach darüber traurig sein könnte, wie mein Leben ist oder frustriert, weil ich es nicht so gestaltet bekomme, wie ich es gerne hätte.

Warum kann ich mir nicht vorstellen, dass ich traurig bin, weil ich meine Fähigkeiten nicht so einbringen kann, dass ich mich dabei weiterentwickele? Warum glaube ich nicht, dass ich frustriert sein könnte, dass ich immer mit Engagement in einen Job starte, um dann zu merken, dass ich schon wieder zu viel Arbeit für viel zu wenig Geld mache und man an dieser Stelle entweder resignieren oder sich erschöpfen kann, ich aber mal wieder nichts verändert bekomme? Warum sollte ich nicht traurig darüber sein, dass nach dem Studium alle Menschen in der Versenkung verschwunden sind, die sich Arbeit nennt und niemand mehr für irgendwas Zeit hat, weil alle sich kaputt arbeiten? Warum soll ich nicht wütend sein, dass meine Zukunft so aussieht, als werde ich mich nur von einem Job zum nächsten hangeln, ohne dass ich mir dabei jemals mehr leisten können werde als das, was ich zur direkten Reproduktion meiner Arbeitskraft brauche, und das auch nur mit Ach und Krach? Warum soll ich mich nicht leer fühlen, weil ich nicht weiß, wie ich in dieser Welt etwas Bedeutsames tun kann, statt nur ein Rädchen in einem Getriebe zu sein, das ich überhaupt nicht am Laufen halten will?

Seit Jahren denke ich, dass mit der Situation alles in Ordnung sei, nur mit mir stimme mal wieder etwas nicht. Warum kann ich denn nie zufrieden sein?

Oder gar der Gedanke, ich könnte emotional auf etwas reagieren, was mich nicht ganz unmittelbar betrifft (wie mein Job, meine Wohnung, meine Partnerschaft). Zum Beispiel auf soziale Ungerechtigkeit, auf Naturzerstörung, auf die immer deutlicher werdenden Zeichen der Klimaveränderung, auf die Dreistigkeit, mit der öffentliche Personen ungestraft Verbrechen begehen und dennoch in Machtpositionen bleiben und der Dinge mehr.

Ich fühle mich davon betroffen. Ich fühle mich als Teil dieser Welt. Mir geht es nicht nur darum, mir das neue Sofa von Ikea leisten zu können oder mir einen Neuwagen vor die Türe zu stellen. Mir geht es auch nicht darum, irgendeine Karriereleiter aufzusteigen, damit ich mehr verdiene oder mehr Anerkennung bekomme.

Ich will, dass es der Welt gut geht. Und es geht ihr einfach nicht gut.

An allen Ecken gibt es, Gewalt, Herrschaft, Ausbeutung, Zerstörung. Ich sehe das nicht als punktuelle Störungen in einem ansonsten funktionierenden System. Für mich ist das System von Grund auf gewaltförmig. Der Modus, in dem wir miteinander und der Welt umgehen, ist einfach an sich übergriffig und aggressiv. Was einem so in der Zeitung begegnet, sind die Symptome von einem von der Wurzel an unheilsamen und disharmonischen Handeln. So wie Husten und Schnupfen Symptome einer Erkältung sind. Man wird ja vom Naseputzen nicht gesund.

Also, warum soll ich darauf nicht reagieren? Warum soll das nichts in mir auslösen?

Ist es wirklich mein Ideal, dass mich das kaltlässt und ich so tue, als ginge mich das nichts an?

Das Muster, so zu tun, als sei die Situation in Ordnung, nur meine Gefühle dazu nicht – das allerdings kenne ich schon von früher. Das ist der Überlebenstrick, den man als Kind entwickelt, wenn man in einer Scheißsituation steckt und sie nicht ändern kann. Dann versucht man an sich selbst herumzumanipulieren, bis man sich an die beschissene Situation angepasst hat und irgendwie da durch kommt. In den letzten Jahren habe ich nichts anderes versucht und mein Therapeut hat mich munter darin unterstützt. Das ist der psychische Survivalmodus.

Ich wollte mich einfach nicht der Wahrheit stellen, denn die war so ungeheuerlich, dass ich sie nicht ertragen konnte. Die Wahrheit ist, dass ich die Welt als eine Welt sehe, die im Ungleichgewicht ist und in der sich ständig explosionsartig Spannungen entladen und die insgesamt in einem mehr oder weniger schleichenden Selbstzerstörung ist. Ich will zum Verderben nicht beitragen, aber ich bin Teil davon und komme da nicht heraus. Viel lieber würde ich aufklären, was die Wurzeln der Disharmonie sind und heilen, was in Ungleichgewicht geraten ist. Aber ohnmächtig stehe ich vor den Ausmaßen des Desasters und ohnmächtig bin ich von einem System existentiell abhängig, das mich zwingt am Verderben mitzuwirken, obwohl ich das nicht will. Hilflos versuche ich mich in kleinen Gesten der Verbesserung, doch die werden einfach absorbiert. Mein Verhältnis zu anderen Menschen wurde beschädigt, weil sie ebenso in diesem System verschwinden und wir es nicht schaffen uns zu solidarisieren.

So wie wir uns einst an unsere Vorfahren wandten und sie fragten, wie sie den Nationalsozialismus zulassen konnten, so werden sich unsere Nachfahren an uns wenden und fragen, wie wir für unsere Konsumgüter Menschen, Tiere und den ganzen Planeten ausbeuten, töten und zerstören konnten. Und wir werden für die ungeheuerlichen Verbrecher erkannt werden, die wir in Wahrheit sind. Mit Ekel wird man betrachten, wie wir andere Lebewesen maschinell zerhackstückelten, wie wir uns mehr nahmen, als wir brauchten und wie wir es anderen wegnahmen. Und man wird uns für völlig verblödet halten, das alles für wohlgeordnet und richtig zu erachten. Man wird wissen, dass wir an eine Ideologie geglaubt haben und sie für so wenig nachvollziehbar halten wie einigermaßen vernünftige Menschen heute den Rassismus.

Ich fühle mich schuldig, weil ich nicht mehr Mut und Kraft habe, dagegen vorzugehen. Ich bin müde, weil ich mit dem Wissen um die Missstände dennoch irgendwie einen Alltag bewältigen muss. Ich bin traurig, weil ich in eine verdrehte Welt geboren wurde und niemals einfach im Einklang mit der Natur mein Leben leben können werde. Stattdessen bin ich in eine Verantwortung hinein geboren, muss Teil einer Lösung für ein Problem sein, dass ich nicht heraufbeschworen habe. Man hat mir ein unbeschwertes Leben genommen, weil sich irgendwelche Arschlöcher mehr als andere unter den Nagel reißen wollten und sie es schafften, alle andere mit dafür einzuspannen.

Und ich soll nicht traurig oder wütend sein? Ich soll daran glauben, dass das eine Fehlzündung in meinem Kopf ist? Ich soll glauben, dass ich eigentlich innerlich noch ein kleines Kind bin, dass noch böse auf Mama und Papa ist? Nein, ich bin sauer auf die unmoralischen Egomanen, die ohne jedes Gewissen zu ihrem eigenen Vorteil handeln. Mama und Papa mussten auch nur irgendwie in diesem Mist zurechtkommen.

Ich lasse mich nicht mehr von therapeutischen Aktivitäten isolieren, auf mein Dasein als Individuum ohne jeden Lebenskontext reduzieren.

Ich bin Teil dieser Welt.

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